Der Fall Helga Michel - eine Entführung und ihre Folgen Vor 60 Jahren wurde ein Mainzer Mädchen gekidnappt und zur Adoption freigegeben / Ihr Bruder fordert Wiedergutmachung
Vom 18.03.2006 Vor 60 Jahren, am 18. März 1946, beerdigt der Mainzer Schrankenwärter Michel ein Kind. Die Dreijährige wurde ermordet aufgefunden - Michel hält sie für seine Tochter. Einen Tag später wird in Heidelberg eine verwahrloste Frau festgenommen. Das Mädchen, das sie bei sich hat, gibt sie als ihre Tochter aus - niemand ahnt die Zusammenhänge zwischen der Verhaftung in Heidelberg und der Beerdigung in Mainz. Der Entführungsfall Helga Michel war einer der spektakulärsten in Nachkriegsdeutschland. Und bis heute leidet die Familie unter den Folgen. Von Kirsten Strasser Eigentlich, sagt Karl-Heinz Michel, habe er eine ganz normale Kindheit gehabt. An ihr war nichts Besonderes, die Schwester habe nicht gefehlt, ihm nicht - viel zu klein sei er gewesen, um sich an das Mädchen mit dem hellen, flaumigen Haar erinnern zu können. Und doch. Wartete seine Mutter nicht voller Angst, wenn er eine Viertelstunde zu spät vom Spielen auf der Straße zurückkam? Schaute sie ihm nicht aus dem Fenster nach, wenn er morgens zur Schule ging - als könnten ihre Blicke ihn festhalten? Ein Kind war ihr doch schon genommen worden, gestohlen - ermordet? - verschleppt. Das Verbrechen und seine fast wahnwitzigen Folgen nimmt seinen Anfang am 12. November 1945, im Schulhof der Eisgrubschule in Mainz. Dort spielt die dreieinhalbjährige Helga Michel, Tochter von Karl und Katharina Michel, als sie ihrer Entführerin Karoline Eckhart in die Hände fällt. Die Frau, selbst kinderlos und debil bis zur Schwachsinnsgrenze, nimmt das Mädchen mit, aus einer Laune heraus. Für die Eltern, die noch einen Sohn, das Baby Karl-Heinz, haben, beginnt eine Zeit der Angst, dann die fürchterliche Nachricht - Helga ist tot. Nur Wochen nach der Entführung ist bei Dillenburg eine kleine Leiche gefunden worden. Karl Michel identifiziert das ermordete Kind als das seine, bringt es heim und beerdigt es. Helga lebt! Erst 1950 erfahren Karl und Katharina Michel, dass das Mädchen, das unter dem schlichten Holzkreuz auf dem Mainzer Friedhof liegt, nicht ihr Kind ist. Helga lebt. Was war passiert? Nach der zufälligen Festnahme der Entführerin Karoline Eckhart, die mit dem Mädchen herumvagabundiert war, wird das Kind vom Jugendamt Heidelberg an die "UNRRA", die Vertretung der Vereinten Nationen, übergeben. Das Mädchen wird in die USA vermittelt und dort adoptiert. Als der Mainzer Schrankenwärter und seine Frau ihre Tochter 1956 zum ersten Mal in North Dakota besuchen können, ist aus Helga längst eine junge Amerikanerin geworden - Helen Jensen. Als diese fast unglaubliche Geschichte publik wird, damals, in den Fünfzigern, stürzen sich die Medien darauf. "Auferstanden von den Toten!", titelt etwa der Stern, und auch andere Blätter überschlagen sich bei der Berichterstattung über einen der spektakulärsten Entführungsfälle der Nachkriegszeit. Schmücken ihre Storys mit wahren und nicht so wahren Fakten aus. Karl-Heinz Michel hat sie alle gesammelt und gelesen, die seriösen Artikel und den Schund. "Manches stimmt, vieles stimmt nicht", winkt er ab. Und jetzt, so viele Jahrzehnte später, ist es ruhig geworden um den Fall Helga Michel. Doch abgeschlossen ist er nicht. Nicht für Karl-Heinz Michel, den Bruder. Über fünf Jahre hat der 62-Jährige damit verbracht herauszufinden, was eigentlich damals passiert ist. Und kam zu einem Ergebnis, das er nur mit Bitterkeit in der Stimme aussprechen kann. "Meine Eltern haben ihre Tochter nicht nur einmal verloren, als sie entführt wurde. Sondern noch ein zweites Mal, als das Heidelberger Jugendamt meine Schwester an die Amerikaner übergab." Damals, davon ist der Mainzer überzeugt, wurde die Chance vertan, den Fall Helga Michel zu einem glücklichen Ausgang zu führen. Fast 60 Jahre alt musste Michels Schwester - heute heißt sie Helen Bergt, hat drei Kinder und ist durch und durch Amerikanerin - werden, bis sie bereit war, sich mit ihrer deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie begab sich 2005 selbst auf Spurensuche; bei einer Deutschlandreise fuhr sie ins rheinhessische Armsheim, das etwa 30 Kilometer von Mainz entfernt liegt. In dem Dörfchen hatte sich Karoline Eckhart mit Helga kurz nach der Entführung für einige Wochen aufgehalten. Nachbarn fiel das verwahrloste kleine Mädchen auf, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Eine Frau wandte sich an das Jugendamt Alzey, das versprach: "Wir schicken jemanden vorbei." Dieser Jemand kam nie. Akribische Recherche Karl-Heinz Michel sollte bei seinen akribischen Recherchen noch auf viele solcher Momente stoßen. Momente, in denen das Schicksal der kleinen Helga in andere Bahnen hätte geleitet werden können - Bahnen, die zurück zu den Eltern geführt hätten. Doch immer wieder, so scheint es, war es den Behörden die Mühe nicht wert, nachzuforschen, wohin dieses kleine Mädchen gehörte. Karl-Heinz Michel hat in Archiven in ganz Deutschland und Amerika geforscht und ganze Berge von Akten und Kopien angehäuft. Und er hat daraus Aufschlussreiches zutage gefördert. Etwa, dass dem Heidelberger Jugendamt schon 1946 bekannt gewesen sein musste, dass das Mädchen unmöglich das leibliche Kind der vagabundierenden Karoline Eckhart sein konnte - die Frau war zwangssterilisiert worden und hatte nie ein Kind geboren. Das Jugendamt ignorierte dies. Obwohl das Amt dem Kinderheim am 4. Juni 1946 die Anweisung gab, das Kind nicht an Eckhart auszuhändigen, da sie aufgrund des Sachverhaltes nicht die Mutter des Kindes sein konnte, übergab man es zwei Tage später der UNRRA als "ausländisches unbekanntes Kind". Nachdem das Mädchen am 21. Juli 1948 adoptiert und vier Jahre später US-Bürgerin wurde, hatten die leiblichen Eltern alle ihre Rechte unfreiwillig für immer verloren. Während Helga - jetzt Helen - mit einer vollkommen neuen Identität in Amerika lebte, nagten Zweifel an der Mutter. War es wirklich ihr Kind, das ihr Ehemann identifiziert und begraben hatte? Verzweifelt schlich sie zu einer Wahrsagerin, die ihr sagte, dass das Mädchen am Leben sei. Es war ein winziger Zipfel Hoffnung, an dem Katharina Michel festhielt - und der ihr die Kraft gab, immer und immer wieder zur Polizei zu gehen. Fall neu aufgerollt Wer weiß? Vielleicht wäre ohne ihr Drängen die Wahrheit nie ans Licht gekommen. Doch endlich entschloss sich ein junger Mainzer Kriminalbeamter, den Fall neu zu recherchieren. Als er zu einer Frau nach Würzburg fuhr, die dort wegen Kindesentführung angeklagt wurde, landete er einen Volltreffer - es war Karoline Eckhart. Freimütig gab sie zu, dass sie im November 1946 ein kleines Mädchen in Mainz mitgenommen hatte. Kurz darauf wurden die Entführung und ihre Folgen bekannt. Womit Karl-Heinz Michel noch heute, nach 60 Jahren, hadert, ist nicht dieses Verbrechen. Was Karl-Heinz Michel wütend macht, ist die "permanente Weigerung der Stadt Heidelberg, die Verantwortung zu übernehmen für das, was dann geschah", sagt der 62-Jährige. Dass dies schon in den Jahren 1951/52 so war, kann er beweisen. Als den Behörden klar wurde, dass sie ein Mainzer Mädchen zur Adoption in die USA gegeben hatten, wandten sie sich nicht an die Eltern und klärten sie über den Sachverhalt auf - "statt dessen zogen sie es vor, den Deckmantel des Schweigens darüber zu breiten", sagt Michel. Und nicht nur das. Der Mainzer hat alte Schriftstücke ausgegraben, die belegten, dass das Heidelberger Jugendamt alle Schuld weit von sich wies und statt dessen die Mainzer Kollegen anrief und bat, "eine schriftliche Erklärung beizubringen, dass die Mutter auf das Kind verzichtet." Die Mutter lehnte ab. Und bekam ihr Kind dennoch nicht wieder. "Ein Unrecht", sagt Karl-Heinz Michel. Ist ein solches Unrecht wieder gut zu machen? Der 62-Jährige schüttelt langsam den Kopf. Muss fast lächeln, wenn er an die 1 000 Euro denkt, die ihm die Stadt Heidelberg vor zweieinhalb Jahren angeboten hat - als "Aufwandsentschädigung für seine aufwendigen Recherchen", und "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht." "Lächerlich", winkt Karl-Heinz Michel ab - ihm geht es nicht ums Geld. Er will ein Schuldeingeständnis von der Stadt Heidelberg, jetzt wo er lückenlos belegen kann, dass das Heidelberger Jugendamt "wider besseres Wissen eine Mainzerin und deutsche Staatsbürgerin an die Amerikaner übergeben hat". Und dass die gleiche Behörde Anfang der 50-er nichts tat, um den Fehler zu korrigieren. Auch jetzt noch fordert Michel eine Entschuldigung - bekommen hat er bislang keine. "Keine Verantwortung" Sie habe die Sache von ihrem Rechtsamt prüfen lassen, teilte ihm die Heidelberger Oberbürgermeisterin Beate Weber in einem Brief mit. Das sei zu dem Ergebnis gekommen, "dass der Stadt Heidelberg nicht eine schuldhafte Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Durch eine Vielzahl von verhängnisvollen Ereignissen kam es dazu, dass Ihre Schwester von einer Familie in den USA adoptiert wurde. Die Verantwortung hierfür können wir nicht tragen." Dies akzeptieren kann und will Michel nicht. "Natürlich, die Mitarbeiter von damals gibt es heute nicht mehr. Für die ist alles verjährt. Aber ich will ein `mea culpa` - darauf hat man doch ein ganzes Leben lang ein Anrecht." Das Verbrechen an dem kleinen Mädchen, das heute vor 60 Jahren auf dem Mainzer Hauptfriedhof fälschlicherweise als Helga Michel beerdigt wurde, ist bis heute ungesühnt. Das Grab gibt es nicht mehr, nie wurde herausgefunden, wer dieses Kind war...
Einfach unglaublich, wie kann eine Bürgermeisterin nur so antworten? Ihr ist offensichtlich nicht klar, was hier vorgefallen ist. Glaubt sie, dass dieses Unrecht damit aus der Welt geschafft ist? Nur gut, dass Michel nicht locker lässt, ich würde es auch nicht, könnte die Europäische Kommission für Menschenrechte nichts tun?
.......Das sei zu dem Ergebnis gekommen, "dass der Stadt Heidelberg nicht eine schuldhafte Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Durch eine Vielzahl von verhängnisvollen Ereignissen kam es dazu, dass Ihre Schwester von einer Familie in den USA adoptiert wurde. Die Verantwortung hierfür können wir nicht tragen."
Nun, als das Mädchen wieder auftauchte und vermittelt werden sollte, waren gar nicht so viele Jahre ins Land gegangen. Die Eltern haben nach 10 jahren ihre Tochter in Amerika besucht. Später hatten dann Bruder und Schgwester Kontakt und haben sich sofort erkannt. (Ich hätte meine leibliche Mutter und einen teil meiner H-Geschwister übrigens auch ohne genetischen Fingerabdruck und v.a. sofort erkannt.) Und heute gibt es den genetischen Fingerabdruck, mit dem man die Identität feststellen kann. Enis