Sie wurden gehänselt, verstoßen, gehasst. Nicht nur die Frauen, die sich mit Besatzungssoldaten einließen, auch die gemeinsamen Kinder galten als Verräter. Jetzt sind sie aus ganz Europa nach Berlin gekommen
Von Claudia Keller
Wenn er den Krieg überlebt hätte, wäre ihr Vater bestimmt zurückgekehrt zu ihrer Mutter. Sie war ja seine große Liebe. 50 Jahre lang hat Mylène Lannegrand das geglaubt. Ihr Vater war der deutsche Besatzungssoldat Heinz Rosentreter. Heute weiß sie, dass er überlebt hatte. Zurückgekehrt ist er trotzdem nicht.
Mylène, eine kleine Frau mit blonden struppigen Haaren, ist noch einmal nach Berlin gekommen, wo sie vor vier Jahren ihrem Vater auf die Spur kam. Sie steht zwischen Metallregalen in der „Deutschen Dienststelle WASt“ in Berlin, der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle. In dem roten Backsteinbau in Reinickendorf lagern 18 Millionen Karteikarten, auf denen die Nazis verzeichneten, wann sich welcher Wehrmachtssoldat während des Krieges wo aufgehalten hat. In Kartei 919, Nummer 667, Buchstabe R, steckt die Karte von Heinz Rosentreter. Darauf steht, dass er nach seiner Stationierung in Frankreich 1942 in Russland leicht verwundet wurde. 1967 hat er eine Wehrdienstbescheinigung für seine Rente angefordert. 1983 starb er in Köln. Auch dass er eine Tochter hat, steht auf der Karte. Es ist nicht Mylène.
Als sie die Karte das erste Mal in der Hand hielt, hat sie geweint. „Weil ich so erleichtert war, dass ich ihn endlich gefunden hatte“, sagt sie. Zugleich sei sie traurig gewesen, dass sie zu spät kam. Nun ist sie wieder hier, weil die WASt zum ersten Mal Besatzungskinder aus verschiedenen Ländern eingeladen hat:
Kinder von deutschen Wehrmachtssoldaten treffen sich mit Kindern amerikanischer, französischer und englischer Soldaten, die 1945 nach Deutschland kamen. Sie wollen ein „Büro der Kinder des Krieges“ gründen. „Weder in der Genfer Konvention noch in der Haager Landkriegsordnung gibt es eine Klausel über uns Kriegskinder. Das muss sich ändern. Wir sind schließlich ein Produkt dieser Kriege“, heißt es in ihrer Erklärung. Sie beklagen, dass sie bisher nach nationalem Recht behandelt werden, das sehr unterschiedlich ist, etwa, was den Zugang zu Archiven angeht.
Hier müssten internationale Regelungen getroffen werden. Auch kämpfen sie dafür, dass sie innerhalb Europas die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen als nachträgliche Anerkennung ihrer Vaterländer. Ein fernes Ziel sei eine UN-Konvention der Kinder des Krieges – zum Schutz für zukünftige Kriegskinder.
Mylènes Mutter war 17, als sie sich in Heinz Rosentreter verliebte. Er kam 1940 in den kleinen Ort Fouras an der Atlantikküste und wohnte im „Hotel de la Mer“. Renée lebte bei ihrem Onkel und ihrer Tante, die das Hotel betrieben. „Für meine Mutter war es die große Liebe“, sagt Mylène. Der 28-jährige Deutsche sei so nett und höflich gewesen, habe immer Blumen gebracht. Er entsprach nicht dem Bild des ungehobelten „Boche“ der Kriegspropaganda.
Im Frühjahr ’41 wurde Rosentreter an die Ostfront abkommandiert. Dass seine Freundin schwanger war, wusste er nicht. Im Dezember wurde Mylène geboren.
In Frankreich gibt es schätzungsweise 200000 Kinder, die einen deutschen Soldaten zum Vater und eine französische Mutter haben und zwischen 1941 und 1945 geboren wurden. Die meisten kennen ihre Väter nicht.
Nachdem die deutschen Soldaten aus Frankreich abgezogen waren, schleiften Männer aus dem Dorf Mylènes Mutter und 20 andere Frauen auf den Platz vor der Kirche. Sie wurden als „deutsche Huren“ beschimpft, dann schor man ihnen den Kopf kahl. Mylènes Mutter verließ das Dorf, heiratete später einen Franzosen und zog mit ihm nach Bordeaux. Mylène wuchs bei der Großtante und dem Großonkel in Fouras auf. „Sie haben mir gesagt, dass ich stolz sein soll, einen deutschen Vater zu haben.“ Sie hat Klavier spielen gelernt, weil ihr Vater Klavier spielte, sie hat Jura studiert, weil er Jurist war. Sie trägt sogar seinen Namen als Mittelnamen: Heinz.
In der Schule sei sie gehänselt worden als „Tochter eines deutschen Schweins“. „Ich wollte beweisen, dass es gut ist, dass es mich gibt.“ Dafür reichte es nicht, gute Noten zu haben. Sie wollte die Beste sein. „Ich wollte strahlen, auch äußerlich.“ Sie schmückte sich mit Goldketten. Auch an diesem Tag trägt sie eine dicke Goldkette und mehrere Ringe.
Immer bohrten diese Fragen in ihr: Wer war Heinz Rosentreter? Hätte er mich gemocht? War er so, wie ihre Mutter ihn beschrieb, oder so, wie die Deutschen in der Karikatur: dick, mit Bierkrug? Als sie jünger war, drängte sie die Fragen beiseite, war beschäftigt mit Studium und Karriere, mit Ehe und Sohn. Was, wenn er noch am Leben ist? „Die Neugier wurde immer größer, aber auch die Angst, auf etwas zu stoßen, was mein Bild zerstört.“
Vor sechs Jahren hielt sie es nicht mehr aus. Sie ist frühzeitig in Rente gegangen, um ihren Vater zu suchen. Die französische Botschaft verwies sie an die Deutsche Dienststelle WASt. Weil sie seinen Namen wusste, fanden die Mitarbeiter die Karteikarte recht schnell. Auf ihr war nur ein Kind vermerkt, weitere Nachforschungen ergaben aber, dass Heinz Rosentreter vier Mal verheiratet war und neun Kinder hatte. In der ersten Ehe wurden fünf Kinder geboren, in der zweiten eines, ein weiteres in der dritten. Dazu kam das Kriegskind Mylène. Sie war nicht die älteste. Auch die deutschen Halbgeschwister wussten nicht alle voneinander.
Dass ihr Vater nicht der treue Liebhaber war, den sie sich erträumt hatte, habe sie nicht gekränkt. Sie ist glücklich über ihre neue Großfamilie. Mit ihrer jüngsten Schwester verbringt sie jedes Jahr den Sommer. Mylène nimmt die Karteikarte ihres Vaters immer wieder in die Hand. Auf der Rückseite stehen nun die Namen aller Kinder, auch ihr eigener.
Auch Franz Anthöfer ist ein „Kind des Feindes“, Sohn einer Deutschen und eines amerikanischen Soldaten. Anthöfers Suche nach dem Vater verlief weniger glatt, auch weil ihm US-Behörden den Zugang zu Akten verweigerten. Als er endlich seinen amerikanischen Verwandten gegenüberstand, schlug ihm die Schwester des Vaters mit der Hand ins Gesicht. Er erzählt das hastig, gleich nach der Begrüßung im Restaurant des Novotel in Tegel, verhaspelt sich immer wieder.
Seit Jahrzehnten pendelt Anthöfer zwischen Deutschland und den USA, verbringt jeden Urlaub in Archiven, streitet mit Behörden. Der abwesende Vater dominiert sein Leben.
Anthöfer wurde 1951 in Rastatt geboren, seine Mutter hatte sich in den amerikanischen Offizier Louis G. Craig verliebt. Anders als Mylène Lannegrands Mutter wurde sie von ihrer Familie aus dem Haus geworfen, als sie schwanger wurde. Sie fand eine Stelle in Köln bei der Lufthansa. Das uneheliche Kind wurde ihr vom Jugendamt weggenommen und in ein Heim gesteckt. Anthöfer wurde als „Ami-Bastard“ beschimpft und verprügelt. Amerika wurde in seiner Fantasie zur Zuflucht, wenn er sich wegträumte aus der lieblosen, ärmlichen Gegenwart.
Als er 14 Jahre alt war, gab seine Mutter seinen drängenden Fragen nach und sagte ihm, wie sein Vater hieß. Seine Sehnsucht konnte sich nun an einen Namen klammern. In der Anglican Church in Köln lernte der Jugendliche Englisch, fuhr mit dem Fahrrad nach Bonn, um im amerikanischen Club Filme zu schauen. Mit 21 flog er nach Washington und ging zu der einzigen Adresse, die er von seinem Vater hatte. Da wohnte kein Louis G. Craig mehr. Jahre später stöberte er die Spur schließlich in Weston auf, einer Kleinstadt in West Virginia. Doch Anthöfer kam zu spät: Drei Wochen zuvor war Louis G. Craig, Anwalt und Bürgermeister, gestorben. Nach dem Schlag ins Gesicht drohte Craigs Schwester, den „deutschen Bastard“ verhaften zu lassen, falls er sich noch einmal blicken lasse.
Aber Anthöfer wollte die amerikanische Staatsbürgerschaft, und dafür brauchte er hundertprozentige Sicherheit. 1996 ließ er die Leiche des Vaters exhumieren und eine DNA-Analyse machen. Sie brachte 99,9-prozentige Sicherheit, dass er der Sohn von Louis G. Craig in Weston ist. Ein Freund seines Vaters schrieb, notariell beglaubigt: „Ich kann bestätigten, dass Louis Craig mehrmals sagte, dass er sich wünsche, sein Sohn wäre bei ihm. Ich habe keinen Zweifel, dass Franz Anthöfer, der den gleichen Gang hat, das gleiche Gesicht und die gleiche Art, die Daumen in die Hüfte zu stemmen, der Sohn ist, von dem er immer gesprochen hat.“
Die DNA-Analyse hätte bei der Anerkennung der Staatsbürgerschaft vor Gericht Bestand, glaubt Anthöfer. Aber das Verfahren geht nicht weiter, weil er nicht zu den Verhandlungen kommen kann. 1997 blieb er länger als die im Touristenvisum zulässigen drei Monate in Virginia. Man schob ihn ab. Seitdem darf er nicht mehr einreisen.
Es ist spät geworden. Anthöfer will noch die Franzosen treffen, vielleicht können sie ihm helfen.