Es war einmal ein gesundes junges Mädchen, das hieß Sadako Sasaki. Sie war zwei Jahre alt, als eine Meile von ihrem Haus entfernt die Bombe fiel. Und obwohl sie infolge der Gewalt der Explosion von einer Kommode geschleudert wurde, blieb sie unverletzt. Sadako war ein so hübsches Mädchen, so munter und so fröhlich. Sie war die schnellste Läuferin in ihrer sechsten Klasse. Dann, eines Tages, wurde sie im Schulhof ohnmächtig, und ein paar Wochen später lag sie im A-Bomben-Hospital mit der schrecklichen Diagnose: akute Leukämie. Sadako war sehr tapfer im Krankenhaus. Sie sang Lieder mit ihren Freunden und faltete Papierkraniche. Tausend Stück wollte sie davon machen, aber eines Tages im Jahre 1959, als sie erst 984 gefaltet hatte, starb sie. Ihre Freunde machten die fehlenden Kraniche für sie und legten sie ihr alle in ihren Sarg. Das war das Ende der Geschichte, aber nicht das Ende dessen was Sadakos Freunde taten. Als hätten sie erkannt, dass der Tod Sadakos ein Symbol für ihrer aller Tod war, beschlossen sie etwas zu unternehmen. Sie sammelten Geld von jungen Leuten im ganzen Land, um ein Denkmal für Sadako zu bauen, das in Friedenspark ihrer Stadt errichtet werden sollte. Ken-chan und ich besuchten gemeinsam mit den Klubmitgliedern das Denkmal. Auf einem ovalen granitenen Sockel, der den Horai symbolisiert, den legendären Berg aus dem Paradies, steht ein junges Mädchen mit einem goldenen Kranich in ihren ausgestreckten Armen. Unmittelbat hinter ihr, auf dem Berg, strecken ein Junge und ein Mädchen ihre Arme gen Himmel. Innerhalb des überwölbten Sockels befindet sich die Inschrift: „Dies ist unser Flehen, dies ist unser Gebet: Frieden in der Welt.“ „Sieh Ken-chan, hier sind ein paar Kraniche!“ rufen die Kinder entzückt, während sie ihm einen Kranz um seinen Hals hängen. Er ist wie sie das Kind einer Überlebenden. Ich sehe von einem jungen beherrschten Gesicht zum nächsten und hoffe, dass nun alles besser wird. Ich weiß, dass in ihnen die Angst steckt, dass in diesem oder im nächsten Jahr jenes unheimliche Ding, das als radioaktive Strahlung in die Welt gesetzt wurde und vielleicht jetzz noch in ihren Körpern lauert, wie es bei Sadako geschah, plötzlich als „A-Bomben-Krankheit“ zum Ausbruch kommen könnte. Krebs kann sich bilden, Bluterkrankungen und Blindheit können auftreten. Diese jungen Leute sind so außergewöhnlich wie ihr Geburtsort. Hiroshima ist eine auserwählte Stadt, und ihre Überlebenden sind Auserwählte. Diese Andersartigkeit ist es, die ich in ihnen erkenne. „Ich weiß, es mag an den Haaren herbeigezogen klingen, sagte ich später zu Bob, „aber Adoptierte haben sehr viel mit hibakuscha gemeinsam. Wir laufen anscheinend ganz normal herum wie jeder andere auch, aber in uns beherbergen wir die radioaktive Strahlung Tabus, Sculdgefühle und Verdrängungen.“ „Alle, die eine Katastrophe miterlebt haben – eine innere oder einebäußere – haben etwas gemeinsam“, erwiderte er. „Aber warum hat nie zuvor jemand des Zustand des Adoptierten erkannt?“ Das ist etwas, auf das ich immer wieder zurückkomme. „Warum werden wir in der psychiatrischen Literatur nicht ernst genommen, damit uns geholfen werden kann, bevor es zu spät ist?“ „Ich nehme an, weil Adoptiertsein nie als Krankheit aufgefasst worden ist“, sagte er nachdenklich. „Eine „A-doprtions-Kramkheit“, das ist es“, sagte ich. Und ich denke zum ersten Mal daran, wie ich es beschreiben könnte: etwas, das den größten Teil des Lebens in einem schlummern kann. Wenn es in der Kindheit, der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter ausbricht und als neurotisches Verhalten oder alls normale Rebellion abgetan wird, kann es betäubt werden. Aber bei manchen Adoptierten kann es bösartige Züge annehmen und sie ihr ganzes Leben lang quälen, indem sie gleichgültig, haltlos und unfähig werden, zu lieben oder zu vertrauen: Einzelgänger. „A-doptions-Krankheit“, wiederholte ich, „sie muß verstanden werden.“
Aus: Betty Jean Lifton: Zweimal geboren. Memoiren einer Adoptivtochter. Aus dem Amerikanischen von Klaus Schomburg Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1986, Seite 143/144
Ich kenne die Geschichte der Sadako Sasaki seit einem ersten Lehrjahr als Buchhändlerlehrling im Jahre 1962. Das mir diese Geschichte in dem Buch vom Betty Jean Lifton wiederbegegnen würde war für mich eine große Überraschung.
Die Geschichte von Sadako kannte ich auch. Es gibt ein sehr schönes Lied dazu, in dem die Geschichte erzählt wird. Der Refrain heisst: "I dreamed of a thousand cranes gentle winged peace, I awoke in a bitter world, but I still have the dream."
Ich finde den Vergleich mit der psychischen Situation Adoptierter sehr treffend. LG Pino