Lebensborn-Akten aufgestöbert: Die bittere Suche nach dem Vater
Ein historisch sensationeller Fund: im Bundesarchiv in Berlin sind die Akten von 1000 so genannten Lebensborn-Kindern aufgetaucht. "Kontraste" begleitet eine Frau auf der Suche nach ihrer Vergangenheit.
Mal sehen, ob Kontraste das Berliner Gütesiegel auch in Zukunft wird großzügig verteilen können. Blonde blauäugige Kinder gezeugt von blonden blauäugigen Menschen. Die sogenannten Lebensborn Heime, zynische Erfindung der Nazis. Die Kinder, die dort zur Welt kamen - heute Menschen, die mit der düsteren Ahnung über eine finstere Herkunft leben müssen. Sie sind die lebendigen Zeugnisse des Rassenwahns von einst. Jetzt ist es über 1000 ehemaligen Lebensborn Kindern erstmals möglich herauszufinden, woher sie kommen. Recherchen von Kontraste haben einer Frau geholfen, sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu machen.
Hans-Werner Kaminski und Gabi Probst begleiteten sie auf der Reise in die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte.
1933. Hitlers Machtergreifung. Zwei Jahre später verkündet Propagandaminister Joseph Goebels die Nürnberger Rassegesetze. Das Volk wird in zwei Klassen geteilt: in Arier und Nicht-Arier. Juden, Sinti und Roma sowie andere Minderheiten werden ausgegrenzt.
Kurz danach gründet der Reichsführer SS Heinrich Himmler den Verein "Lebensborn". "Lebensborn" soll dem "Reich" und dem "Führer" rassisch-wertvollen Nachwuchs bescheren. Kinder, die blond und blauäugig sind. „Nordisch", wie es der Reichsführer formuliert. Und Himmler hat noch eine andere Vision: Er will über das Lebensborn-Programm 400.000 neue Soldaten heranzüchten.
Dagmar Jung ist ein Lebensborn-Kind. Als sie das erfahren hat, verlor sie die Nerven.
Dagmar Jung: "Ich dachte, Du möchtest gar nicht mehr leben. Ich fühlte mich irgendwie, ja nicht gewollt, andererseits belogen und betrogen."
1942 wird sie in einem Heim des „Lebensborn" geboren. Sie wächst in Niedersachsen auf. Ihre Adoptiveltern nennen sie Uta. In Hamburg geht sie zur Schule, hat Spielzeug und Fahrrad und besitzt eigentlich alles, was ein Kind braucht. Nur eines spürt sie:
Dagmar Jung: "Das ich kein Kind der Liebe bin, das hat mir zu schaffen gemacht, und das macht mir zu schaffen. Und ich denke: Mir fehlt ein Teil in meinem Leben."
Weil ihr die Liebe fehlt und viele Indizien dafür sprechen, hegt sie schon früh den Verdacht, daß sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist. Doch diese leugnen hartnäckig.
Erst mit 35 Jahren gibt ihr der Vater auf dem Sterbebett einen Hinweis. Auf der Suche nach der Wahrheit erfährt Uta, dass sie mit zwei Jahren adoptiert wurde. Und: Dass sie in Wirklichkeit Dagmar heißt.
Geboren in diesem Lebensborn-Heim in Brandenburg. Eines von insgesamt neun Heimen im Deutschen Reich, in denen Kinder zur Welt kamen, deren Väter und Mütter von der SS als „rassisch einwandfrei" eingestuft wurden.
Dagmar Jung: "Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Mein Vater war ein Zuchtbulle."
20 Jahre sammelt Dagmar Jung alles, was sie über Lebensborn erfahren kann. Der Gedanke, aus einer Zuchtstätte der Nazis zu kommen, läßt sie nicht mehr los. Jahrelang sucht sie nach ihrer Mutter - vergeblich. Jetzt ist sie auf dem Weg nach Berlin. Denn im Bundesarchiv soll es Unterlagen über ihren Vater geben.
Dagmar Jung: "Es ist ein innerer Zwang. Das ist, als ob in mir jemand sagt, Du mußt das herausfinden, du mußt das abrunden, damit endlich Ruhe in dein Leben kommt. Damit du das Gefühl hast, okay jetzt weißt du woher du kommst. Und es ist mir auch wirklich egal, was dabei heraus kommt. Ich muß es einfach wissen."
Dagmar Jung ist nervös als sie am Bundesarchiv ankommt. Sie gehört zu den ersten Lebensborn-Kindern, die hier Unterlagen über ihre leiblichen Eltern einsehen können.
Diese Kartei war jahrzehntelang verschollen. Über 1000 Lebensborn-Kinder sind hier erfasst, die meisten auch mit dem Namen ihrer leiblichen Eltern. Erst durch KONTRASTE erfuhr Dagmar Jung von diesem Fund.
Einhundertfünfzig Geburten können allein dem Heim "Kurmark" im brandenburgischen Klosterheide zugeordnet werden - dort, wo auch Dagmar Jung geboren wurde.
Das, was sie hier persönlich von ihrem Vater zu sehen bekommt, sind Unterlagen aus dem Dritten Reich. Er war ein überzeugter Nazi. Seine Biographie ist eindeutig.
Dagmar Jung: "Meine politische Tätigkeit in der NSDAP begann im Juno 1931. Seit dem 1.10.34 bin ich Angehöriger der Leibstandarte SS Adolf Hitler, und habe mit der Standarte an folgenden Feldzügen teilgenommen: Polen, Holland, Belgien, Frankreich, Serbien und Griechenland."
Ihr Vater war Elitesoldat der Waffen-SS. Eine Einheit, die auch an Kriegsverbrechen beteiligt war. Mit seiner Tochter wollte er nichts zu tun haben. Die geplante Hochzeit mit ihrer Mutter fand nie statt. Der NSDAP aber hielt er die Treue, doch das verdrängt Dagmar Jung.
Dagmar Jung: "Die berufliche Laufbahn meines Vaters und seine Zugehörigkeit zur NSDAP, die berühren mich im Grunde genommen überhaupt nicht. Im Moment empfinde ich einfach nur Zufriedenheit, dass ich über ihn persönlich aus den Akten sehr vieles entnommen habe. Und ja auch angerührt, auch ein bißchen traurig, dass er nicht mehr lebt."
Klosterheide im Norden Brandenburgs. Der Geburtsort Dagmar Jungs. Hier liegt der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit, und hier will sie jetzt endgültig zu sich selbst finden.
Dagmar Jung hat eine Zeitzeugin ausfindig gemacht: Monika Rabeneck, die in der Nähe des früheren Lebensborn-Heimes wohnt. Genauso wie ihr Mann hat sie hier das Ende des Dritten Reichs miterlebt.
Die Rabenecks wissen noch viel über die damaligen Ereignisse - und die Gerüchte, die im Dorf kursierten. Manche sprachen sogar von einer „Deckstation", eine Art Bordell für SS-Angehörige. Gerüchte, die keiner bestätigen konnte, weil niemand Zutritt hatte. Im Gespräch wird die Vergangenheit lebendig.
September 1937. Das Lebensbornheim "Kurmark" wird zur Geburtsstätte für mehrere hundert Kinder. Viele unverheiratete schwangere Frauen fanden hier Zuflucht. Wo und unter welchen Bedingungen diese Kinder gezeugt wurden, ist nicht bekannt. Sicher ist dagegen: N u r Frauen "guten Blutes" entbinden hier und n u r Kinder wie Dagmar Jung - blond und blauäugig - haben eine Zukunft. Kinder, die nach den Kriterien der SS als "rassisch wertvoll" anzusehen sind. Für sie übernimmt der Reichsführer SS persönlich die Vormundschaft, bis zur Adoption.
Die anderen Kinder werden in Waisenhäuser abgeschoben. Behinderte im Rahmen eines Euthanasie-Programms umgebracht. Und das alles unter strengster Geheimhaltung. Das Heim verfügt über ein eigenes Standesamt, in dem die Geburten nur SS-intern registriert werden. So bleiben die Mütter und Väter anonym - bis heute.
Nach mehr als 50 Jahren erinnert nur noch diese Statue an die Ereignisse.
Dagmar Jung fragt immer wieder nach Einzelheiten, denn sie selbst hat keine Erinnerung an ihren Aufenthalt in Klosterheide. Monika Rabeneck aber kann sich noch gut an das Ende des Lebensborn-Heimes erinnern.
Monika Rabeneck: "Anfang 1945 ist hier alles in einer Nacht- und Nebenaktion aufgelöst worden. Die SS hat alles auf LKW's verladen, Frauen und Kinder und vielleicht auch die Unterlagen. Es wurde alles verladen."
Dagmar Jung wird vieles klarer. Denn bis heute hat sie vergeblich nach einer Geburtsurkunde gesucht. Ein Problem, daß sie mit vielen teilt, die hier in Klosterheide zur Welt kamen.
Sie sollte einst zur "arischen Elite" des Deutschen Reiches gehören. Haben sich ihre Eltern geliebt? War ihr Vater ein Zuchtbulle? Was ist aus ihrer Mutter geworden? Sie wird es wohl nie erfahren. Trotzdem fühlt sie sich ein wenig von der Last der Vergangenheit befreit.
Dagmar Jung: "Ich habe einfach das Gefühl, es beginnt ein Gesundungsprozeß. Für mich eine Art Abschluß. Der mich zwar auch immer noch sehr berührt. Aber ich glaube es ist, nein ich bin sicher, es ist richtig, daß ich das gemacht habe."
Es gehört Mut dazu, herausfinden zu wollen, dass die eigenen Eltern Nazis waren. Die arischen Kinder von einst bleiben ein Leben lang beschädigt durch die Ideologie von Wahnsinnigen.
"Wenn ich heute SS-Uniformen sehe und die Hakenkreuzfahne, dann hab ich immer noch ein positives Gefühl", erzählt Helga Kahrau. "Das waren ja die ersten Kindheitserinnerungen. Und dann erst setzt der Verstand ein." Helga Kahrau wurde in einem der 21 Lebensbornheime geboren, die das nationalsozialistische Deutsche Reich betrieb. Der "Lebensborn" diente der NS-Rassepolitik und war eine Idee Heinrich Himmlers, des Reichsführers der SS. Aufgenommen wurden nur solche schwangeren Frauen, die nachweisen konnten, dass sowohl sie selbst als auch der Vater des Kindes arisch im Sinne der NS-Rassegesetze waren. Dann konnten sie im Lebensbornheim diskret entbinden. Die hier geborenen Kinder waren häufig unehelich, Ergebnis einer Affäre und ungewollt. Der "Lebensborn" organisierte auf Wunsch auch die Adoption der "arischen" Kinder oder die Unterbringung bei Pflegeeltern, oft hochrangige SS-Familien. Auch Michael Sturm und Heilwig Weger sind in einem der 21 Lebensbornheime zur Welt gekommen. Und wie Helga Kahrau wussten sie lange nichts über die wahre Geschichte ihrer Geburt und Herkunft. Sie wurden ihnen von den eigenen Müttern lange verschwiegen - ebenso hartnäckig verweigerten die Mütter Auskunft über den leiblichen Vater. Heilwig Weger wusste lange nicht einmal, dass der Mann, den sie als Vater liebte und der als NS-Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, nur ihr Adoptivvater war. Die Scham darüber, im Zeichen der NS-Rassezuchtpolitik geboren zu sein und der dringende Wunsch, den richtigen Vater zu finden, ließ sie nicht mehr los. Das Gefühl, "...irgendwie Schuld zu haben an irgendwelchen Dingen, an denen ich im Grunde nicht Schuld habe", begleitet viele Kinder des Lebensborns ein Leben lang. In dieser ARD-Dokumentation erzählen drei von ihnen erstmals ihre bewegende Geschichte. Ein Film von Bruno Schneider und Rainer Brumme. --------------------------------
Hierzu empfehle ich auch das Buch "Das endlose Jahr" von Gisela Heidenreich