Auszügeaus: Adoption und Identitätsfindung Irmela Wiemann 27./28. Mai 2003 in Bonn
Mit den leiblichen Eltern oder einem leiblichen Elternteil aufzuwachsen, ist in unserer Kultur selbstverständlich. Kinder sind Teil ihrer Verwandtschaft, letztes Glied von Generationen. Das Kind sieht jemandem in der Familie ähnlich, „es kommt auf den Vater, die Tante, die Großmutter oder ältere Geschwister heraus.“ Über unsere Eltern, Großeltern, Geschwister, unsere Verwandten, (z.B. wem wir ähnlich sehen) definieren wir uns. Darüber hinaus wird unsere Identität bestimmt über Geschlechterrolle, soziale Normen und Werthaltungen. Durch seine Familie weiß ein Kind wie von selbst, wer es ist, bekommt es seine Besonderheit, seine Unverwechselbarkeit, seine Identität.
Fast alle fremdplazierten Kinder fühlen sich trotz neuer, oftmals dichter und sicherer Bindung als Teil ihrer Herkunft. Sie definieren sich bewusst oder unbewusst als Kind ihrer Eltern. Das Wort Identität kommt aus dem Lateinischen von Idem und bedeutet Derselbe: Ich bin neu zusammengesetzter Teil meiner Eltern. Von ihnen habe ich Wesenszüge und meine Konstitution.
Nicht nur adoptierten Kindern, allen Menschen, die ihre Eltern oder einen Elternteil nicht kennen, z.B. Vollwaisen, Kindern mit unbekannten Vätern bleibt diese Quelle, sich selbst besser zu kennen und zu verstehen, verschlossen. Vollwaisen haben aber in der Regel Menschen, die ihre Eltern kannten, haben von ihnen Fotos, wissen den Namen.
Eine zweite Bedeutung des Wortes Identität kommt von Identifikation. Es bedeutet, Wiedererkennen, aber auch Übereinstimmen. Unser Pass (Identitycard) und unsere Identität dienen dazu, unverwechselbar zu sein, wiedererkannt zu werden. Adoptierte leiden oft darunter, dass sie „nicht erkannt“ werden könnten oder dass sie ihren leiblichen Angehörigen begegnen könnten, ohne sie zu erkennen. Wenn sie jemanden sehen, der ihnen ähnlich zu sein scheint, egal wo: auf der Straße, im Zug, auf dem Campingplatz: Dann fragen sie sich: Ist dies meine Mutter, mein Vater? Sind dies meine Geschwister? Dies ist eine sehr beunruhigende Situation.
Die Identitätsfindung
Das Interesse an der Herkunft kommt nicht erst mit der Pubertät auf. Die Identitätsfrage stellt sich für Adoptivkinder lebenslang in verschiedener Intensität und immer wieder anderer Ausprägung, je nach Altersstufe.
Heute gehört es dazu, dass Adoptiveltern viel wissen und dieses Wissen weitergeben an die Kinder. Im Zusammenhang mit der Biographiearbeit und der Erstellung eines Lebensbuches für das adoptierte Kind tritt für die angenommenen Kinder ein Stück Beruhigung ein. Den Namen, das Geburtsdatum der Eltern zu wissen, zu wissen, weshalb sie von den leiblichen Eltern fort mussten beschäftigt schon drei, vier, fünfjährige Kinder. Heute sind viele Adoptiveltern ein gutes Modell für ihre Kinder, indem sie die Bedeutung der Herkunft und der Identität würdigen. In früheren Jahren fühlten sich Adoptierte oftmals sehr allein, vor allem bei Familienfesten, wenn Verwandte der Adoptiveltern kamen. Die Adoptierten wussten genau: Hier kommen alle zusammen, weil sie miteinander verwandt sind. „Ihr seid nicht meine richtigen Eltern“, bekamen fast alle Adoptiveltern schon zu hören. Die achtjährige Anna erklärte sogar, als sie nicht aufräumen wollte: „Ich gehe jetzt zum Jugendamt und besorge mir neuen Eltern!“ Manche Adoptionswillige glauben, sie könnten adoptierte Kinder durch das Vorenthalten der Wahrheit vor Schmerz und Kummer bewahren. Doch wird dem Kind die Adoption verheimlicht, so steht etwas zwischen Eltern und Kind. Informationen lassen sich zwar vom Kind fernhalten, nicht aber die Gefühle, die Atmosphäre. Auch wissen in der Regel Großeltern, Verwandte und Nachbarn Bescheid. Kinder spüren und ahnen meist, dass ihnen etwas vorenthalten wird.
Adoptivkinder wollen so werden, wie ihre Adoptiveltern. Zugleich definieren sie sich unbewusst, manchmal ganz offen, als Kinder ihrer Herkunftseltern. Was sie an gefühlsmäßigen Signalen über diese empfangen, ob die Adoptiveltern die Herkunftseltern achten können und dem Kind Erklärungen geben können, weshalb ihre Eltern in ihre jeweilige Notlage kamen, wirkt auf das innere Bild ein, das die Kinder von ihren leiblichen Eltern in sich tragen. Und dieses negative Bild prägt die Identität des Kindes. Wenn Adoptiveltern die Herkunftseltern negativ bewerten und keine guten Seiten an ihnen sehen können, reproduzieren manche Kinder aus unbewusster Identifikation immer wieder vermutete negative Verhaltensweisen ihrer leiblichen Eltern, vor allem in der Jugendzeit.
Wir wissen schon aus dem Trennungs- und Scheidungsbereich, wie belastend es ist, wenn ein Junge z.B. von seiner Mutter gesagt bekommt, sein Vater sei ein Schuft. Wiederholt haben solche Jungen zu mir gesagt: Bei dem Vater kann doch aus mir nichts werden! Bei Adoptierten betrifft diese Selbstablehnung oftmals beide Elternteile. Sie wissen, dass sie Kind dieser geächteten Menschen sind. Ein Zwanzigjähriger ist kein Einzelfall, der eines Tages im Bett liegen bleibt, nicht mehr zur Schule geht und zu seinen erfolgreichen, sozial anerkannten Adoptiveltern sagt: So viel wie Ihr, werde ich nie erreichen. Meine Eltern haben in der Gosse gelebt. Ich werde eher so wie sie.
Kinder, die keine Chance haben, stolz auf ihre Eltern oder Elternteile zu sein, sehen für sich kaum positive Chancen. Dies kann zu Selbstaggression bis hin zum Suizid führen.
Diese Prozesse können sehr subtil ablaufen, auch ohne, dass Adoptiveltern beabsichtigen, den Herkunftseltern einen negativ besetzten Platz zu geben. Der oder die Adoptierte kommt aus einer Familie, die nicht so intakt ist, die gesellschaftlich nicht so anerkannt ist, wie die Adoptivfamilie. Allein, dass die Herkunftsfamilie gegen die gesellschaftliche Regel verstoßen hat, ihr Kind selbst zu versorgen, lastet auf dem Kind. Dies erlebt das Kind als persönliche Niederlage.
Entscheidend ist also: Können die Adoptiveltern emotional anerkennen, dass die Herkunftseltern zum Leben des Kindes dazugehören? Und können sie ertragen, dass sie dem Kind den Schmerz, von den leiblichen Eltern getrennt worden zu sein, nie werden ganz fortnehmen können, dass das Kind hier immer wieder Trost und Einfühlung braucht?
Reaktionen auf das Adoptiertsein:
Verletzbarkeit bei späteren Verlusten oder Enttäuschungen im Leben und eine höhere Sensibilität für Zurückweisungen und Verlassenwerden.
Machtlosigkeit in Bezug auf die Umstände der Adoption
Anhaltende Trauer über den Verlust der leiblichen Eltern
Angst, nicht geliebt zu werden. Angst vor Trennung, Zurückweisung
Gefühle von Einsamkeit und Nichtdazugehören
Die Kränkung, fortgegeben worden zu sein
Wenn Säuglinge von ihren Eltern getrennt werden und zu neuen Menschen kommen, so können sie auf die Menschen ihrer Umgebung Bindung und Vertrauen übertragen. Dennoch haben sie unbewusst den Verlust registriert. Wir wissen aus der Säuglingsforschung (Dornes, der kompetente Säugling http://www.craniotherapie.ch/b_kim.html ), dass Babies ihre Eltern an der Stimmen, der Sprache, am Herzschlag und am Geruch wieder erkennen. Die Mutter war ihnen neun Monate lang vertraut. Der Bruch im Leben wird wahrgenommen und registriert. So fühlen sich viele Adoptierte Lebenslang oftmals unsicher, haben unbewusste Ängste vor Trennung. Hinzu kommt mit dem Wissen über die Freigabe zur Adoption die erlittene Kränkung. Von den eigenen Eltern weggeben worden zu sein, hinterlässt existentielle seelische Wunden, von denen Adoptiveltern oft annehmen, dass sie verheilt seien, wenn das Kind schon länger bei ihnen lebt.
Manche Kinder oder Jugendliche verdrängen den Schmerz. Manche Kinder fühlen sich selbst verantwortlich für ihre Fortgabe. Sie fragen sich, ob sie alles getan haben, um die Katastrophe zu verhindern. Viele fremdplazierte Kinder geben sich selbst Mitschuld oder sogar die Alleinschuld an der Trennung von ihren Eltern. Sie fragen sich: „Was war an mir nicht richtig, dass sie mich nicht gebrauchen konnten?“ Adoptiveltern können bei aller Liebe und allem Einsatz die schmerzliche Tatsache im Leben des Kindes nicht „wiedergutmachen“, von den eigenen Eltern getrennt worden zu sein. Die Trauer und der Kummer, die eigenen Eltern verloren zu haben bzw. nicht mit ihnen leben zu können, bleibt für alle „angenommenen“ Kinder oftmals lebenslang Thema. Manche geben es sich selbst zu, wie stark die Tatsache, fortgegeben worden zu sein, schmerzt; andere verdrängen und sagen: „Das macht mir doch nichts aus.“ Die Kränkung, von den „eigenen Eltern“ weggegeben worden zu sein, hinterlässt, auch wenn sie nicht wahrgenommen und bewusst gefühlt wird dennoch ein geschwächtes Selbstwertgefühl.
Adoptiveltern können dem Kind den Schmerz, die eigenen Eltern verloren zu haben, über sie traurig, wütend oder beschämt zu sein, nicht abnehmen. Sie können helfen zu ordnen und zu trösten und sie können anerkennen, dass der Kummer oder auch Ärger und Trauer über die Herkunftsfamilie ein zentrales Thema im Leben der Kinder bleibt. Und sie können dem Kind helfen, sich mit seiner schweren Situation auszusöhnen. Ganz unabhängig, ob ein Kind real Zugang zu seinen Wurzeln hat durch Fotos, Briefe der Herkunftsfamilie oder Kontakte z.B. zu Geschwistern: Adoptivkinder können sich dann wertvoll und seelisch komplett fühlen, wenn ihre Herkunftsfamilie in ihrem aktuellen Leben einen emotionalen Platz bekommt, wenn es seine Herkunftseltern und seine Geschwister als Teil von sich selbst anerkennen darf.
Für jene Adoptiveltern, die nicht genug oder gar nichts über die Herkunft ihrer angenommenen Kinder wissen, ist es besonders schwer, dem Kind die Eltern als existent und wertvoll zu vermitteln. Ich kenne viele Adoptiveltern von Findelkindern – inländische und ausländische Kinder – und ich weiß, dass einige von ihnen vehemente Gegnerinnen der Babyklappe sind. Sie haben nichts, was sie dem Kind geben und erzählen können. Und es ist schwer, dem Kind etwas über die Entstehung und seine leiblichen Eltern zu sagen, wenn das Kind es nicht wert gewesen schien, von seinen Eltern die Personalien, die Identität mit auf den Lebensweg zu bekommen.
Die meisten Adoptiveltern bemühen sich um Fotos der Herkunftsfamilie, sie können dem Kind einen Namen nennen: Deine Mutter heißt Marianne, dein Vater heißt Max. So bekommen die Herkunftseltern eine Gestalt: Kinder, die anonym geboren wurden – wir wissen es auf Frankreich – fühlen sich besonders stark seelisch verletzt, entwertet, es lässt sie oft lebenslang nicht mehr los.
Warum Adoptierte nach ihren leiblichen Verwandten suchen
Sie wollen den verloren Teil ihrer selbst wieder finden
Sie wollen sich selbst komplettieren, gerade die Suche nach Geschwistern hilft bei der Identitätsfindung
Sie sind neugierig und wollen die Aussagen ihrer Adoptiveltern überprüfen
Sie wollen ihren eigenen Kindern etwas über sich und ihre Herkunft erzählen können
Sie wollen ihr Leben ordnen und damit leben lernen, dass sie seelisch-soziale und leibliche Eltern haben
Sie möchten ergründen und wissen, warum sie fortgegeben wurden
Sie wollen die Kränkung überwinden, fortgegeben, verstoßen, ausgetauscht worden zu sein
Sie möchten Informationen über ihre konstitutionellen, charakterlichen, gesundheitlichen Bausteine
Sie suchen nach Menschen, denen sie in Teilen gleichen, denen sie ähnlich sehen und mit denen sie körperlich verwandt sind
Es gibt unbewusste und offene Sehnsucht, den Bruch im Leben ungeschehen zu machen
Wenn es gelingt, die leiblichen Eltern ausfindig zu machen und ihnen zu begegnen, so tritt für viele Adoptierte ein Stück Beruhigung und Entlastung ein. Dennoch lässt sich das besondere Schicksal nie aufheben. Die nicht miteinander gelebten Jahre sind nie mehr aufholbar. Adoptierte müssen herausfinden, wie stark sie sich ihrer „neu gewonnenen“ Verwandtschaft oder ihren Herkunftseltern zugehörig oder sogar verpflichtet fühlen wollen. Leibliche Angehörige zu kennen, gibt vielen Adoptierten dennoch ein Stück emotionale Sicherheit. Manche Adoptierten fühlen sich erneut zurückgewiesen, sie müssen ein weiteres Mal Abschied nehmen, weil ihre Mutter oder ihr Vater nicht dem Bild entspricht, das sie sich gemacht haben. Die Konflikte, die zur Trennung der Lebenswege und zur Adoption geführt haben, werden dann wieder spürbar. Andere Adoptierte können ihren Frieden mit der Situation machen und ihr Schicksal annehmen. Sie stellen keine Erwartungen an ihre Herkunftseltern und sind so oder so zufrieden, endlich zu wissen, wer ihnen die eigenen Bausteine gab. Viele können ihr Schicksal nach einer Begegnung mit Elternteilen oder Geschwistern besser annehmen.
Viele Adoptierte, die ihre Angehörigen niemals ausfindig machen können, reagieren darauf mit bleibender Trauer. Es bleibt ihnen nur, mit der schmerzhaften Lücke leben zu lernen und diese Lücke als Bestandteil ihrer eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Einen inneren Frieden können viele ehemalige Findelkinder dennoch nie finden.
Klarheit über Rolle, Status und Auftrag
Adoptiveltern haben zwei Aufträge: Zum einen für das Kind Eltern zu sein und zum anderen ihm seine Geschichte zu bewahren, mit dem Kind zu bearbeiten und damit verbunden, die leibliche Elternschaft zu würdigen. Die Herkunftseltern gehören zum Leben des Kindes dazu, ohne sie gäbe es das Kind nicht. Und ohne ihr Nicht-soziale-Elternseinkönnen hätten die Adoptiveltern kein Kind. Gleichzeitig ist die emotional-seelische Elternschaft wertvoll und die wichtigste Elternschaft. Adoptiveltern müssen an sich arbeiten, hier nicht zu zweifeln. Beide Elternschaften – die biologische und die soziale – haben ihre Berechtigung und ihren Stellenwert. Die leibliche Elternschaft ist ebenso wie die soziale nie mehr aufhebbar. Wenn die Adoptiveltern beide Elternschaften als wertvoll einstufen, ihre emotional-rechtliche Elternschaft und die Herkunftselternschaft, wenn sie dem Kind das Gefühl vermitteln, dass aus beiden ein wertvolles Ganzes wurde, dann können Kinder ihr Adoptionsschicksal gut bewältigen.
In dem sehr empfehlenswerten Buch von Ryan und Walker „Wo gehöre ich hin“ werden nach Vera Fahlberg drei Bereiche der Elternschaft aufgezeigt: die leibliche Elternschaft, die nie mehr aufhebbar ist, die soziale Elternschaft, die nach Jahren der Bindung und des Zusammenseins ebenfalls nicht mehr austauschbar ist, und die rechtliche Elternschaft (Vergl. Ryan und Walker, 1997, S. 85). Fahlberg ordnet die ökonomische Elternschaft der rechtlichen Elternschaft zu. Doch dies ist meines Erachtens ein vierter zentraler Bereich der Elternschaft. Adoptiveltern haben (außer der Dimension leibliche Elternschaft) alle drei anderen Anteile von Elternschaft. Bei Pflegekindern sind oft alle vier Dimensionen auf verschiedene Menschen oder Institutionen verteilt.
Ein Kind kann dann beruhigt aufwachsen, wenn alle vier Anteile in seiner Lebenswirklichkeit einen angemessenen Platz bekommen. Dies kann geschehen, indem dem Kind beispielsweise über die leiblichen Eltern gesagt wird: „Sie haben dir das Leben gegeben und bleiben für immer deine leiblichen Eltern.“ Derjenige, der die rechtliche Verantwortung für das Kind trägt, sollte dem Kind ebenfalls klar beschrieben werden: „Wir sind deine rechtlichen Eltern und bestimmen in wichtigen Sachen des Lebens, was mit Dir geschieht.“ Über die soziale Elternschaft kann dem Kind gesagt werden: „Weil wir schon solange als Adoptiveltern und Kind zusammenleben, ist unsere Jeden-Tag-Eltern-Kindschaft nicht mehr austauschbar. Auch sie kann nie mehr rückgängig gemacht werden. Die gelebten Jahre haben uns miteinander verbunden.“ Wird dieser Ansatz verinnerlicht, so bekommen die Herkunftseltern emotional, ideell oder real (durch Kontakte) einen Platz im Leben des Kindes. Die Klarheit über seine Rolle und seinen Status gibt Kindern Orientierung, Sicherheit und Stärke.
Adoptierte müssen das Schwere vollbringen, die Trennung zwischen leiblicher und seelisch sozialer Elternschaft zu vollziehen. Wir alle müssen im Lauf unseres Erwachsenwerdens und unserer Reifung lernen, dass unsere Eltern uns das Leben gaben, dass sie aber möglicherweise ihre seelisch-soziale Elternrolle nicht immer in unserem Interesse ausgeübt haben. Zu ertragen, von den Eltern nicht das alles bekommen zu haben, was wir gebraucht hätten, muss jeder Mensch mehr oder weniger lernen. Jeder Mensch muss im Laufe seines Erwachsenwerdens aushalten, von den Eltern vieles an Zuwendung oder Verständnis nicht mehr zu erwarten. Adoptierte müssen diesen Prozess in einer sehr radikalen Weise vollziehen. Sie müssen sich damit abfinden, dass sie von ihren Eltern das Leben bekamen, aber keine Anteile von seelisch-sozialer Zuwendung. Bei offenen Adoptionen ist dies ganz anders. Hier spürt das Kind, dass die Mutter noch Zeit, Interesse, Kraft aufbringt. Dieses Kind muss nicht in so radikaler Weise Abschied nehmen. Wieder wird deutlich, wie extrem die Situation der Menschen ist, die nicht einmal wissen, wer ihre Eltern sind, wer ihnen das Leben gab. Die nur mit dem Wissen aufwachsen, fortgelegt oder anonym geboren zu sein. Dies bleibt eine lebenslange Verletzung: zwar das Leben bekommen zu haben, aber ansonsten gar nichts, nicht einmal die Identität, den Namen oder das Alter der Eltern.
Wenn bisher in getrennten Familien lebende Geschwister einander suchen und treffen
Viele Adoptierte geraten in Euphorie, wenn sie erfahren, dass sie noch Geschwister haben und dass diese nach ihnen suchen.
Für die Identitätsentwicklung und die Verarbeitung des Adoptionsprozesses ist das Zusammentreffen von Geschwistern eine große Hilfe. Zu wissen, dass es andere Kinder derselben Eltern oder derselben Mutter gibt, die ähnliche Bausteine haben, meist sogar ein ähnliches Schicksal, ist für die Adoptierten sehr entlastend und psychisch beruhigend. Leibliche Geschwister kennen zu lernen, bedeutet für Adoptierte sich nicht mehr allein auf der Welt zu fühlen, Verwandte, Schicksalsgenossinnen zu haben und Menschen die einem konstitutionell ähnlich sind. Kaum vorstellbar wieder, was es bedeutet, wen auch dieser Weg der Selbstfindung für immer versperrt bleibt.
Wenn Adoptierte nicht nach ihren Wurzeln suchen wollen
Wenn Adoptierte es ablehnen, nach ihrem Ursprung zu suchen, so kann dies unterschiedliche Ursachen haben. Loyalität zu den Adoptiveltern, Sorge die Zuneigung der Adoptiveltern zu verlieren, den Adoptiveltern nicht wehtun wollen, sich ihnen verpflichtet fühlen. Unsicherheit, wie mit zwei Familien umzugehen ist, wie sie zu handhaben sind. Es gibt kein Modell, zwei Familien zu haben. Sorge vor Ansprüchen und Verpflichtungen nach beiden Seiten. Die Fortgabe hat die Adoptierte oder den Adoptierten so tief und nachhaltig verletzt, dass sie/er Angst vor neuer Verletzung, neuer Niederlage und neuer Zurückweisung hat. Angst vor der ganzen Tragweite der Realität, Angst, die Situation nicht zu ertragen, Angst, einem Menschen gegenüber zu treten, der Macht über einen bekommt.
Bedürfnis, zu verdrängen und nichts zu tun, was die bisherige Sicherheit und den bisherigen Lebensweg belasten könnte. Wunsch, die Adoptionsfreigabe nicht mehr wahrhaben zu wollen, so sein wollen, wie alle anderen Menschen. Bedürfnis nach Rache und Bestrafung der Herkunftseltern: „Ihr habt mich machtlos und ohnmächtig gemacht, über mich verfügt, ohne, dass ich Einfluss hatte. Nun will ich Einfluss nehmen und Macht haben. Ihr habt mir wehgetan, nun tue ich euch weh, indem ich nichts mehr mit euch zu tun haben will.“
Wenn adoptierte Menschen große Abwehr entwickelt haben, so ist es oberstes Gebot, diese zu respektieren. Die Suche nach der Herkunftsfamilie kostet Adoptierte oftmals viele Jahre ihres Lebens enorme seelische Energie, die anderen Lebensbereichen entzogen wird. Manche Adoptierte benötigen viele Jahre, bis sie sich für eine Suche stark genug fühlen.
Aber auch Adoptierte, die aus Angst vor neuer Verletzung oder aus Bestrafungswünschen heraus eine Begegnung ablehnen, benötigen oft viel seelische Energie für diesen Weg. Dennoch kann niemand sie zu einem anderen Weg bewegen. Sie benötigen oft viele Jahre Zeit. Andere entscheiden sich, nie nach Angehörigen zu suchen. Der Adoptionsprozess ist ein konflikthafter Start ins Leben und diese Konflikte lassen sich oftmals lebenslang nicht mehr vollständig bereinigen oder bewältigen.
Wenn der Weg zum Ursprung abgeschnitten ist
Dennoch bleibt es ein tiefer Unterschied, ob ich als adoptierter Mensch selbst beschließe, meine Herkunftsfamilie nicht zu suchen oder ob ich dieser Möglichkeit, hier eine eigene Entscheidung zu treffen, von vornherein beraubt worden bin. Auch haben die Menschen, die sich gegen eine Suche entscheiden, oftmals ein bestimmtes Wissen über ihre Herkunftsfamilie. Anonym geboren oder in eine Babyklappe gelegt worden zu sein, bedeutet für diese Menschen eine besonders radikale Form des sich Unerwünschtfühlens, des Verstoßenwordenseins. Das kann durch noch so liebevolle Aufklärung, dass die Mutter einen verantwortlichen Schritt getan haben soll, nicht aufgehoben werden. Eine beliebte Bewältigungsstrategie von annehmenden Eltern – gerade ei den X-Kindern in Frankreich heißt: Wir sagen dem Kind am besten nichts. Wer so handelt belastet sein angenommenes Kind möglicherweise noch stärker, als jene, welche die Wahrheit sagen: Informationen lassen sich verbergen (Imber-Black, Tisseron), nicht aber die dazugehörigen Gefühle. Die Kinder ahnen sie, bleiben jedoch damit alleingelassen.
Die Menschen, von denen sie abstammen, denen sie gleichen, von denen sie ein Teil sind, nicht zu kennen, überhaupt nichts zu wissen, bedeutet für die betroffenen Menschen eine bleibende nie schließbare Lücke im Leben, damit verbunden eine nie endende Trauer einerseits sowie tiefe Selbstunsicherheit und Selbstzweifel andererseits. Einige junge Adoptierte aus Indien berichteten mir von ihren schweren Prozessen. Sie sind froh, das Kinderheim in Indien zu kennen. Eine von ihnen kam kürzlich von einer Reise aus Indien zurück und war überzeugt, sie hätte sich in einem bestimmten Stadtteil vertraut und heimisch gefühlt. Nie wird sie überprüfen können, ob ihre Gefühle der Realität entsprechen. Viele Adoptierte, die ihre Abstammung nicht kennen, leiden unter mangelndem Realitätsbezug, können die Welt um sich herum viel schwerer einordnen, weil ihnen die Grundlagen hierzu fehlen. Im Lauf der Jahre gelingt es manchen „entwurzelten“ Menschen in einem langsamen Prozess, die bleibenden schmerzhaften Lücken als zu ihrem Leben dazugehörig anzunehmen. Andere können ihr gesamtes Leben nicht gut bewältigen. Wieder andere können durch das am Beginn ihres Lebens stehende Nein, nie mehr lebensbejahend sein und sind suizidgefährdet. Ich kenne mehrere annehmende Familien, in denen jugendliche Adoptierte oder Pflegekinder Suizid begingen, weil sie mit der schweren Verletzung, die am Anfang ihres Lebens stand, nicht weiterleben konnten.
Wenn nur ein einziges Baby gerettet wird, dann haben sich Babyklappe und anonyme Geburt schon gelohnt ist ein beliebtes Argument der BefürworterInnen. Mit größter Wahrscheinlichkeit war ein Kind, das zur Babyklappe gebracht wird, aber nie wirklich in Lebensgefahr. Der Preis: Es werden in Zukunft tausende von Menschen mit einem lebenslangen Schmerz belastet. Und einige werden nicht stark genug sein, diesen dauerhaft auszuhalten und sich später möglicherweise das Leben nehmen. Langfristig gesehen schützen wir also mit Babyklappe und anonymer Geburt nicht Leben sondern wir belasten und gefährden Leben.
Diplomarbeit von Silvia Krappel Adoption: Verfahren im Namen des „Kindeswohls“ mit problematischen Folgen für die Identitätsentwicklung betroffener Kinder!
Referentin: Prof. Dr. Wiebke Wüstenberg Koreferent: Prof. Dr. Walter H. Kiehl
vorgelegt im Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Frankfurt/M. am 14.04.1999