Zitat von BrigitteMeiner Meinung nach kann und wurde/wird das heutige Adoptionssystem teilweise, obwohl es mit Sicherheit einst gutgläubig und gutwillig ins Leben gerufen wurde, durch mehrere Faktoren ins Negative verkehrt.
Einer dieser Faktoren sind die SozialarbeiterInnen. Sie üben gegenüber den sich fast immer in großer psychischer und/oder physischer Notlage befindenen Herkunftsmüttern eine große Macht aus und bestimmten in hohem Maße, ob es zu einer Adoption kommt oder nicht.
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Haro Schreiner – Adoption – warum nicht offen? Schulz-Kirchner-Verlag 1993
Auszüge aus Kapitel 2 (s. 16 -21) Die Machtergreifung der Experten "Sozialarbeiter"
Heiner Keupp schreibt: Die Professionalisierung der psychosozialen Helferberufe setzt einen Mechanismus ständiger Zuständigkeitserweiterung in Gang. Die Folgen davon sind die „Enteignung“ alltäglicher Handlungskompetenz, die Abhängigkeit vom Expertenhandeln.
Professionalisierung:
Es sei hier am Beispiel „Entwicklung der Inkognitoadoption“ die „Machtergreifung“ gezeigt. Die Entwicklung der Inkognitoadoption ruht auf drei Aspekten: Die Professionalisierung des Sozialarbeiters, die Familienideologie und das Erbrecht. Die Professionalisierung der Adoptionsvermittler sei hier als wichtiger Faktor der Herausbildung der Inkognitoadoption benannt.
Inkognitoadoption heißt: Die abgebende Mutter weiß nicht, wohin ihr zur Adoption freigegebenes Kind vermittelt wird. Auch die annehmenden Eltern haben im Regelfall kaum Informationen über die abgebende Mutter. Sehr häufig sehen sie nur aus dem Geburtsschein den früheren Namen des Kindes und den Namen der Kindesmutter. Weitere Informationen fehlen häufig. Nach Umfragen ist diese Situation auch heute noch die wahrscheinlichste.
Inwieweit trägt nun ausgerechnet die Professionalisierung des Adoptionsvermittlers zu einer Entwicklung der Inkognitoadoption bei? Hierzu muss kurz auf die Geschichte der Sozialarbeit eingegangen werden: Sozialarbeit ist als eine reaktive Maßnahme auf gesellschaftliche Missstände im letzten Jahrhundert entstanden. So waren z.B. die Kinder der Arbeiterfamilien unterversorgt, wenn beide Elternteile 12 bis 14 Stunden am Tag arbeiten mussten, um das Überleben zu sichern. Die Sozialarbeit schuf Kinderaufbewahrungsanstalten usw. Dieser reaktive Ansatz, das Reagieren auf gesellschaftliche Missstände, führt die „Sozialarbeit“ zu zwei Bestimmungen:
• Die Hilfsbedürftigen sind zu versorgen durch Methoden und Mittel. • Die gesellschaftlichen Strukturen sind so zu verändern, dass die Hilfsbedürftigkeit verhindert wird.
In der Praxis wird vom Arbeitgeber, z.B. der Kommune, der Sozialarbeiter mit der Maßgabe eingestellt, dass er sich dem Hilfsbedürftigen widmet. Der zweite Aspekt, die gesamtgesellschaftliche Analyse und Veränderung wird vom Arbeitgeber nicht als Teil der konkreten Arbeit gesehen. Dieser Teil wird in den Freizeitbereich des Sozialarbeiters verlegt, z.B. wenn er sich nach Dienstschluss in der Gewerkschaft oder in einer politischen Partei oder sonst in einer Bürgerinitiative engagiert. Verstrickt in die Alltagspraxis gleicht der Einsatz des Sozialarbeiters einer Sisyphusarbeit. Er hat es mit Menschen aus der Schicht der Nichtprivilegierten zu tun und hier zeigt sich, dass der Sozialarbeiter in der Praxis eher helfen kann, Brände zu löschen als Strukturen zu verändern. Der Umgang mit den sozial benachteiligten Schichten führt z.B. zur Identifikation mit den Beteiligten. Er macht sich zum Fürsprecher und fordert für seine von ihm zu betreuenden Hilfsbedürftigen Rahmenbedingungen ein. So wird unter Umständen z. B. eine Hausaufgabenhilfe über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme eingerichtet oder eine betreute Spielstube.
Angesichts der Probleme mit den so genannten Randgruppen der Gesellschaft und dem Gefühl der Allzuständigkeit des Sozialarbeiters besteht die Gefahr eines Ausbrennsysndroms. Nach 2 bis 3 Jahren engagierten Einsatzes und nach vielen Rückschlägen und nach teilweise fehlenden Erfolgsmeldungen erschlafft die Motivation und der Wille für einen altruistischen Einsatz. Resigniert zieht sich der Sozialarbeiter u.U. auf formale Tätigkeiten zurück. An seine Stelle treten neue Sozialarbeiter, die sich jung und engagiert nach einiger Zeit ebenso der Gefahr aussetzen, „ausgebrannt“ zu sein. Das Prestige und das Ansehen des Sozialarbeiters sind nicht sehr hoch. Höher eingeschätzt von der Umwelt wird der Beruf des Sozialpädagogen. Er versucht präventiv mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten in Kindertagesstätten, Kinderheimen, Jugendfreizeiteinrichtungen und in Kulturzentren. Der Sozialpädagoge ist nicht so eindeutig tangiert mit der „Zielgruppe der Benachteiligten unserer Gesellschaft“. An Fachhochschulen schreiben sich für das Studium der Sozialarbeit ca. 30 % und für das Studium der Sozialpädagogik ca. 70 % ein.
Die Sozialpädagogik ist im Gegensatz zur Sozialarbeit in die Hochschulwissenschaft als Bindstrichpädagogik einbezogen. Es gibt bis auf den heutigen Tag keinen Lehrstuhl für Sozialarbeit. Sozialarbeit wird nur an den Fachhochschulen vermittelt. Auch die Graduierung und Diplomierung des Sozialarbeiters zum Diplom-Sozialarbeiter (FH) brachte nicht den Gewinn, der durch den akademischen Titel versprochen wurde. Das Selbstbewusststein und das Selbstwertgefühl der Sozialarbeiter sind bis auf den heutigen Tag durch die Tatsache gekennzeichnet, dass Sozialarbeit eine Praxis ohne Theorie darstellt. Bei Seminaren und Fachkongressen über Sozialarbeit werden als Festredner meistens Universitäts-Pädagogen und –Psychologen eingeladen. Im Gegensatz zur Fachhochschule für Technik, an der nur Diplom-Ingenieure Lehrende sein können, waren an der Fachhochschule die Sozialarbeiter früher nur als Lehrende im Mittelbau zugelassen. Erst in neuerer Zeit können diese nach Promotion (z.B. in Pädagogik) das Fach „Systematik der Sozialarbeit“ lehren.
Den Beruf des Sozialarbeiters bzw. des Sozialpädagogen ergreifen hauptsächlich Frauen, ca. 70 % der Studenten/innen dieser Fächer sind weiblich. Berufe mit hohem Frauenanteil haben in unserer Gesellschaft immer noch mit Anerkennung und Prestigezuwachs zu kämpfen. Am deutlichsten ist dies bei dem Beruf der Krankenschwester oder der Kindergärtnerin zu sehen, wobei die Kindergärtnerin Wert darauf legt, Erzieherin genannt zu werden. In den Adoptionsvermittlungsstellen nach dem Zweiten Weltkrieg waren zunehmend Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogen tätig. Zum ersten Mal in ihrer Berufslaufbahn sind ihre Klientel Eltern der gehobenen Mittelschicht. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen stammen ebenfalls aus der Mittelschicht und haben die gleiche Denk- und Sprachweise. Emotional fühlen sie sich bei geglückten Adoptionen mit betroffen. Angesichts der Vielzahl von Kindern und dem Mangel an Adoptiveltern nach dem zweiten Weltkrieg, war es eine ihrer Hauptaufgaben, Eltern zu überzeugen, dass dieses oder jenes Kind wie ein leibliches in die Familie hineinpasst. So wurden auch Überlegungen aufgestellt, inwieweit Erbanlagen bei einem Adoptivkind vorhanden sein könnten, die mit den Erbanlagen der Adoptiveltern übereinstimmen. Eine Ähnlichkeit im Aussehen der Adoptiveltern mit der des Kindes z.B. bei Augenfarbe oder bei Haarfarbe war ein wichtiges Kriterium für die Zuordnung. Somit war es verständlich, dass bis 1970 Mischlingskinder (z.B. „Vater schwarz – Mutter weiß“) ins Ausland nach Skandinavien „exportiert“ wurden. Man dachte, dass diese Kinder, die nichtdeutsch aussahen, sich hier nicht wohl fühlen könnten, insbesondere auch deshalb, da sie ihren Adoptiveltern nicht ähnlich waren. (Anmerkung: Merkwürdig, die Vorstellung der Sozialarbeiter, dass solche Kinder sich in Skandinavien wohler fühlen würden, wo die Skandinavier von Natur aus doch so dunkelhäutig sind.)
Die Aufgabe eines Adoptionsvermittlers erfordert Kompetenz und Professionalität. Hier werden Grundsatzentscheidungen gefällt, die nur auf der Grundlage von „wissenschaftlichen Theorien“ stehen dürfen. Im Vergleich zu seinen Kollegen im Jugendamt hat der Sozialarbeiter der Adoptionsvermittlungsstelle eine sehr "erfolgreiche und befriedigende" Tätigkeit. Er macht „Schicksal“ und hat dankbare Rückmeldungen der Mittelschicht¬adoptiveltern. Sein Arbeitszimmer ist mit den Fotos der Adoptivkinder geschmückt und signalisiert erfolgreiche Arbeit. Von seinem Arbeitsplatz aus kann er die Bilder dieser erfolgreichen Arbeit sehen: Lachende Eltern und glückliche Kinder in schöner Umgebung, z.B. im Garten eines Einfamilienhauses.
Da über 90 % der Adoptionen „gelingen“, wie immer man das auch erfassen mag, ist die Tätigkeit für die betroffenen Sozialarbeiter hoffnungsvoll und erfolgversprechend und zukunftsorientiert. Ihr Auge ist auf die Adoptiveltern und das Adoptivkind gerichtet.
Aus dem Blick verschwunden sind die abgebenden Mütter. Dem Verfasser (Dr. Haro Schreiner), sind viele Adoptionsvermittlungsbüros bekannt, die geschmückt sind mit Bildern von Adoptiveltern und Adoptivkindern: In keinem einzigen Fall ist bisher das Bild einer abgebenden Mutter als positives Beispiel zu sehen gewesen. Es drängt sich dem Verfasser der Verdacht auf, dass in manchen Adoptionsvermittlungsbüros auch heute noch ausschließlich Bilder der Adoptiveltern und des Adoptivkindes als Beweis der guten Arbeit ausgestellt werden und dass evtl. durch den Rückgang von zur Vermittlung stehenden Kindern um Hilfestellung bittende Mütter in der Weise beraten werden, dass sie ihr Kind zur Adoption freigeben. (Anmerkung: diesen Verdacht äußert Haro Schreiner noch 1993!!!)
Schließlich warten viele Mittelschicht- und Oberschichteltern auf ein Kind. Mittelschicht- und Oberschichteltern gehören durchaus zu den Honoratioren der Kommunalpolitik. Hier und da üben sie einen „kleinen“ Druck aus, durch ihre geringe Geduld und durch die langen Wartezeiten. Der Druck wird z.B. über den Bürgermeister weitergegeben. So kommt es durchaus vor, dass die Vergabe der wenigen zur Adoption zu vermittelnden Kinder nicht nach dem Warteprinzip funktioniert, sondern nach dem Einzelfallprinzip. Dahinter verbirgt sich aber durchaus für den Beobachter die Gefahr, dass stadtbekannte Honoratioren und Persönlichkeiten bevorzugt werden und auch ein zweites Adoptivkind erhalten und andere Eltern, die auch überprüft wurden, nie zum Zuge kommen. Ohne es beweisen zu können, vermutet der Verfasser, das neben der pädagogischen Entscheidung, z.B. einem in der Familie befindlichen Adoptivkind ein Geschwisterteil hinzuzufügen -, es auch gelegen kommt, dass die Adoptiveltern zu den sehr angesehenen Familien im Ort gehören, z.B. als Ärzte, Pfarrer, Bürgermeister oder Ratsmitglieder. Jedenfalls lässt sich konstatieren, dass so genannte Arbeiterfamilien kaum Chancen, auf das knappe Gut „Adoptivkind“ haben. Bei einer empirischen Untersuchung des Verfassers, bei der drei Gruppen von Adoptiveltern miteinander verglichen wurden-, eine Gruppe von Adoptiveltern mit ausländischen Adoptivkindern, eine Gruppe von Adoptiveltern mit deutschen Adoptivkindern und eine Gruppe von Pflegeeltern mit deutschen Pflegekindern – kamen alle Eltern ausnahmslos aus der Mittelschicht.
Der Adoptionsbereich ist einer der wenigen sozialarbeiterischen Bereiche, bei dem es vorwiegend um Mittelschichtklientel geht. Zur Tätigkeit des Sozialarbeiters gehört, Adoptivelterntreffen zu organisieren, damit Adoptiveltern sich untereinander besser kennen lernen und die Adoptivkinder sehen, dass sie nicht einzigartig auf dieser Erde sind. Hier sollen psychologische und pädagogische Probleme besprochen werden. Der Verlauf solcher Adoptiveltern-Treffen ist eine sehr befriedigende Tätigkeit. Der Sozialarbeiter wird von den Adoptiveltern zu Recht gelobt wegen seines Engagements und seines Einsatzes für die Organisation z.B. eines Adoptivelternwochenendes. Der Sozialarbeiter lädt Fachleute ein, die ein Referat oder eine Diskussion zum Thema Adoptionspsychologie durchführen. Dem Verfasser ist nicht ein Jugendamt bekannt, das Nacharbeit mit den abgebenden Müttern tätigt, die nicht wissen, wohin ihr Kind vermittelt wurde.
Die Mütter gehören meist der sozial benachteiligten Schicht an und fallen somit in ein anderes Ressort. Diese werden im Rahmen des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) betreut. Erste Versuche übernimmt die Evangelische Familienbildungsstätte in Hamburg. Die Anläufe in anderen Großstädten (Frankfurt oder München), eine Gruppe von abgebenden Müttern zu initiieren, die sich treffen, um ihre Probleme zu besprechen, sind bisher fehlgeschlagen. Es gibt viele Erklärungsgründe für die Fehlschläge, aber vielleicht ist eine Ursache, dass diese Initiative zur Gründung einer Gruppe sich einzig auf die Selbsthilfe der Betroffenen stützt, während dies bei den Adoptiveltern von Amts wegen organisiert wird. ...
Durch die Inkognitoadoption laufen die Fäden über den Schreibtisch des Sozialarbeiters. Dort werden die Knoten geknüpft und die Verbindungen hergestellt. Dort werden die Entscheidungen gefällt und „Schicksal“ für das Kind getätigt.
Liebe Brigitte, danke, dass Du den Text hier eingestellt hast. Haro Schreiner hat scheinbar schon 1993 kapiert, dass etwas Aufklärung Not tut. Leider lesen solche Schriften aber grade die nicht, die es was angeht.